Max Liebermann (1847–1935) war bereits zu Lebzeiten ein bedeutender Künstler und zählt zu den wichtigsten Vertretern des deutschen Impressionismus. Er war Mitbegründer und Präsident der Berliner Secession sowie Präsident der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin, die sich unter seiner Leitung zu einer wichtigen Stimme für Kunst und Kultur in der Weimarer Republik entwickelte. Zu seinem 80. Geburtstag erhielt Liebermann für seine Verdienste von der Stadt Berlin die Ehrenbürgerwürde verliehen.
Max Liebermann hatte mit dem Sammeln von Kunstwerken bereits während seiner Studienjahre in Paris begonnen und im Laufe der Jahre eine umfangreiche Kunstsammlung aufgebaut. Ein Hauptgewicht der Sammlung lag auf Arbeiten von Édouard Manet, Edgar Degas sowie Claude Monet, Camille Pissarro, Auguste Renoir und Paul Cézanne. Weitere Schwerpunkte bildeten Werke von Rembrandt und Adolph von Menzel.
Das Ehepaar Max und Martha (1857–1943) Liebermann wurde während des Nationalsozialismus unstreitig individuell und kollektiv verfolgt. Bereits kurz nach dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft am 30. Januar 1933 erklärte Liebermann Anfang Mai 1933 seinen Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste und legte seine Ehrenpräsidentschaft nieder, um einem drohenden Ausschluss zuvorzukommen. Zeitgleich ließ er vierzehn impressionistische Werke seiner Sammlung mit Hilfe des Mitinhabers des Kunstsalons Paul Cassirer, Walter Feilchenfeldt (1894–1953), im Kunsthaus Zürich zur Verwahrung außerhalb des NS-Machtbereiches deponieren. Auch übergab er einige Werke an den Kunsthändler Fritz Nathan (1895–1972) zur Vermittlung, der im Frühjahr 1934 eine Zeichnung von Adolph von Menzel an den Winterthurer Sammler Oskar Reinhart (1885–1965) verkaufte.
Im November 1934 erkrankte Max Liebermann schwer und verstarb am 8. Februar 1935. Seine Witwe und Erbin Martha Liebermann sah sich im Herbst 1935 gezwungen, das Haus am Pariser Platz 7 zu verlassen und in eine Wohnung in der Graf-Spee-Straße 23 (heute Hiroshimastraße) zu ziehen. Unmittelbar danach setzte sie vermehrt die Werke ihres Ehemannes und seiner Sammlung zur Bestreitung ihres Lebens ein. Auch verlor sie durch die nationalsozialistischen Zwangsumstände beträchtliche Teile ihres weiteren Vermögens, wie das Haus am Pariser Platz und die Villa am Wannsee. Nach dem vergeblichen Versuch einer Auswanderung und in Anbetracht der drohenden Deportation und Ermordung, traf sie schließlich die verzweifelte Entscheidung, sich das Leben zu nehmen. Sie verstarb am 10. März 1943. Zum 31. März 1943 wurde ihr gesamtes verbliebenes Vermögen entschädigungslos zu Gunsten des Deutschen Reiches eingezogen.
Der Tochter von Max und Martha Liebermann, Käthe Riezler (1885–1952), gelang im Dezember 1938 mit ihrer Familie die Flucht aus Deutschland. Einen kleinen Bestand der Sammlung ihres verstorbenen Vaters konnte sie mit nach New York nehmen; parallel gelang es ihr mit Hilfe von Walter Feilchenfeldt, die 1933 nach Zürich verbrachten Gemälde über Amsterdam in die USA zu transferieren. Zehn weitere Werke konnten durch die Verwahrung ihres Schwagers Walter Riezler (1878–1965) für die Familie gerettet werden. Der größte Teil der Sammlung von Max Liebermann ging aber unter dem Druck der nationalsozialistischen Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung verloren. Ein erster Versuch, die Sammlung zu rekonstruieren, erfolgte 1973. Seit 2008 wurden die Forschungen intensiviert, sodass von einem Umfang von über 450 Kunstwerken der Sammlung Liebermanns ausgegangen werden kann.Max Liebermann erwarb die Zeichnung unter dem Titel Maurer beim (auf dem) Bau am 17. Mai 1916 von dem Kunstsalon Paul Cassirer für 800 Mark. Seitdem befand sie sich in seiner Sammlung und ist auf zwei Fotografien jeweils im Salon der Villa am Wannsee dokumentiert. Die Familie Liebermann pflegte seit 1910 von Mai bis Herbst ihr Stadtdomizil am Pariser Platz gegen den Sommersitz am Wannsee zu tauschen, begleitet von notwendigem Hausrat und ausgewählten Kunstwerken. Die streitgegenständliche Zeichnung ist sowohl auf einer Aufnahme des Ehepaares Liebermann gemeinsam mit der Tochter Käthe und der Enkelin Maria von 1924 als auch auf einer Porträtfotografie Max Liebermanns von 1932 an der Wand im Hintergrund ausschnitthaft zu erkennen. Die Fotografie von 1932 stammt aus einem Konvolut von sieben Aufnahmen für einen Beitrag in der Münchner Illustrierten Presse, wofür der Journalist Dr. Leo Matthias (1893–1970) am 24. November 1932 vergütet wurde. Weitere Nachweise, die den Verbleib der streitgegenständlichen Zeichnung im Besitz der Familie Liebermann / Riezler belegen, sind nicht vorhanden.
Im März 1936 bot die Hamburger Galerie Commeter verschiedenen Kunden, darunter dem Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Halle (Saale), dem Schlesischen Museum der Bildenden Künste in Breslau und dem Städtischen Museum Düsseldorf, einige Zeichnungen von Adolph von Menzel zum Kauf an. Das Angebotsschreiben an Halle ist auf den 12. März 1936 datiert. Bereits am 13. März 1936 erbat das Städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe die Ansichtssendung der Werke – „mit Ausnahme der 5 Glasbildchen“ – für 2 bis 3 Tage. Am 25. März 1936 beantragte das Museum bei der Stadt die Genehmigung für den Ankauf der Zeichnungen Hausbau mit Bauarbeitern bei der Arbeit, von oben gesehen und Rebus (Darstellung Generalfeldmarschall, Fuhrwerk etc.) für insgesamt 600 Reichsmark. Seit diese im April 1936 erteilt worden war, befand sich die Zeichnung Bauarbeiter im Bestand des Städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe (heute Kunstmuseum Moritzburg in Trägerschaft der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt). Nachweise, dass der Verkauf über die Galerie Commeter im Auftrag von Martha Liebermanns erfolgte, existieren ebenso wenig, wie Hinweise auf einen anderen Auftraggeber.Zwischen den Parteien ist die kollektive und individuelle Verfolgung des Ehepaars Max und Martha Liebermann unstrittig. Streitig ist jedoch, ob der Eigentumsnachweis Max Liebermanns an dem streitbefangenen Werk zum Zeitpunkt der Machtergreifung am 30. Januar 1933 erbracht ist und ob Martha Liebermann 1936 noch Eigentümerin der Zeichnung war.
a) Nach Auffassung der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt haben die Anspruchstellenden nicht bewiesen, dass Max Liebermann zum Zeitpunkt der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 noch Eigentümer der Zeichnung war, obwohl belegt ist, dass sich die Zeichnung ab 1916 bis Herbst 1932 im Eigentum Liebermanns befand. Ebenso wenig sei erwiesen, dass die Zeichnung noch bei deren Verkauf 1936 Martha Liebermann gehörte. Nur bei entsprechendem Nachweis könne von einem NS-verfolgungsbedingten Entzug ausgegangen werden.
b) Aus Sicht der Anspruchstellenden ist der Beweis negativer Tatsachen, hier der Nachweis, Max Liebermann habe das Werk nicht vor der Machtergreifung und seine Ehefrau nicht vor dem Verkauf der Zeichnung abgegeben, nicht erfüllbar. Da der Verkauf des Werkes zwischen Herbst 1932 und der Machtergreifung am 30. Januar 1933 durch Max Liebermann einen atypischen Sachverhalt darstelle, müsse die Kulturstiftung Sachsen-Anhalt dies beweisen. Auch das Wissen darum, dass Martha Liebermann verstärkt ab Februar 1935 gezwungen war, mit Verkäufen aus der Sammlung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, stütze die Annahme, dass der Verkauf der Zeichnung 1936 durch Martha Liebermann erfolgte.
Nach Auffassung der Beratenden Kommission NS-Raubgut ist die Zeichnung Adolph von Menzels, Bauarbeiter, an die Anspruchstellenden als NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut zu restituieren. Die Rechtsnachfolge der Anspruchstellenden nach Max und Martha Liebermann wurde festgestellt. Maßstab für die Beurteilung des Sachverhalts ist nach der Verfahrensordnung der Beratenden Kommission NS-Raubgut i.d. Fassung vom 2. November 2016 die Handreichung zur Umsetzung der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999 (Neufassung 2019) (im Folgenden: Handreichung).
a) Der maßgebliche Zeitpunkt für einen NS-verfolgungsbedingten Entzug ist nach der Handreichung (S. 35) der Zeitraum zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945. Daher ist die Frage relevant, ob das streitbefangene Werk zum Zeitpunkt der Machtergreifung Max Liebermann gehörte. Beweispflichtig hierfür sind die Anspruchstellenden. Belegt ist, dass Max Liebermann die Zeichnung 1916 erworben hat und diese sich noch im Herbst 1932 in seinem Besitz befand. Schon nach allgemeinen Beweisregeln ergibt sich hieraus seine Eigentümerstellung auch zum Zeitpunkt der Machtergreifung.
Derjenige, der einen Sachverhalt behauptet, muss dafür einen substantiierten Tatsachenvortrag vorlegen, also konkrete Tatsachen benennen. Sofern die Kulturstiftung Sachsen-Anhalt nahelegt, das Kunstwerk sei noch in den wenigen Monaten vor der Machtergreifung an einen Dritten übereignet worden, muss sie für diese Behauptung somit nachprüfbare Tatsachen vortragen. Daran fehlt es hier. Vielmehr ist der Rechtsgedanke des § 1006 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) heranzuziehen. Danach gilt zugunsten von Max Liebermann, dass er als Eigenbesitzer der Zeichnung auch deren Eigentümer war und dies auch blieb, sofern nicht konkrete Umstände eines Verlustes vorgetragen und nachgewiesen sind.
Die Behauptung der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, die Zeichnung habe ggf. zum Zeitpunkt der Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr im Eigentum Liebermanns gestanden, ist lediglich spekulativ. Die Kulturstiftung Sachsen-Anhalt trägt keine schlüssige Erklärung vor, die eine Veräußerung oder einen sonstigen Besitzverlust in den wenigen Monaten zwischen dem Sommer 1932 und dem 30. Januar 1933 nahelegte.
Der Rückgriff auf eine erleichterte Beweisführung durch den sogenannten Anscheinsbeweis ist im vorliegenden Fall nicht notwendig. Der Anscheinsbeweis soll nach der Handreichung (S. 36) im Fall von Überlieferungslücken im Sinne von Art. 4 der Washingtoner Erklärung zur Anwendung kommen, sofern diese dem Zeitablauf und dem Verfolgungsschicksal der Geschädigten geschuldet sind. Hier liegt aber für den Zeitraum zwischen Herbst 1932 und der Machtergreifung am 30. Januar 1933 eine solche Überlieferungslücke nicht vor. Dass im Nachhinein nicht für jeden Moment in dem maßgeblichen Zeitraum ein Nachweis der Eigentümerstellung erbracht werden kann, ist, wie bereits ausgeführt, schon mit Blick auf § 1006 BGB unerheblich. Die Vermutung des § 1006 BGB kommt auch demjenigen zugute, der sein Recht von dem früheren Besitzer ableitet (BGH, Urteil vom 19.07.2017, V ZR 255/17) und wirkt auch nach Besitzverlust noch fort (BGH, Urteil vom 10.11.2004, VIII ZR 186/03, Neue Juristische Wochenschrift 2005, 359). Auch zugunsten von Martha Liebermann darf daher nach allgemeinen Beweisregeln und in Ermangelung entgegenstehender Tatsachen vermutet werden, dass sie selbst ab dem 18. Februar 1935 als Erbin Max Liebermanns Eigentümerin der Zeichnung geworden ist.
b) Spätestens mit der Veräußerung der Zeichnung durch die Galerie Commeter an die Stadt Halle im April 1936 ging das Eigentum von Martha Liebermann an der Zeichnung verloren. Nach der Handreichung gilt für NS-Verfolgte, zu denen Martha Liebermann als Jüdin gehörte, eine besondere Vermutungsregelung. Danach wird der Verlust eines Kulturgutes aufgrund eines Rechtsgeschäfts bei einer verfolgten Person im Verfolgungszeitraum grundsätzlich als eine ungerechtfertigte Entziehung auf Grund von NS-Verfolgung bewertet (Handreichung, S. 35f.). Es obliegt in einem solchen Fall dem heutigen Eigentümer oder Besitzer, diese Vermutung zu widerlegen. Die Widerlegung erfolgt bei Rechtsgeschäften vor dem 15. September 1935 durch den Nachweis, dass ein angemessener Kaufpreis gezahlt wurde, über den auch frei verfügt werden konnte. Bei Rechtsgeschäften nach dem 15. September 1935 muss der heutige Eigentümer zusätzlich den Nachweis erbringen, dass das Rechtsgeschäft auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus oder unter erfolgreicher Wahrung der Vermögensinteressen der verfolgten Person stattgefunden hätte. Diese Umkehr der Beweislast zugunsten der früheren Eigentümer reflektiert den enormen Verfolgungsdruck, dem die vom NS-Regime Verfolgten ab dem 30. Januar 1933 und verschärft ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Nürnberger Gesetze, dem 15. September 1935, ausgesetzt waren.
Nach diesen Grundsätzen kann nicht bezweifelt werden, dass sich die rechtsgeschäftliche Veräußerung der Zeichnung im April 1936 für Martha Liebermann im Ergebnis als ungerechtfertigte Entziehung darstellte. Dabei ist nicht entscheidend, ob Martha Liebermann die Zeichnung persönlich oder über einen weiteren Zwischenhändler an die Galerie Commeter verkauft oder zum Zwecke des Verkaufs eingeliefert hat. Auch ein möglicher früherer Verkauf durch Martha Liebermann wäre als NS-verfolgungsbedingt zu werten. Denn auch dann hätte Martha Liebermann das Eigentum an der Zeichnung durch Rechtsgeschäft verloren, mit der Folge der Anwendbarkeit der genannten Vermutungsregelung zu ihren Gunsten.
Für einen Verlust der Zeichnung auf andere als auf rechtsgeschäftliche Weise, etwas durch Diebstahl oder Plünderung, ergeben sich weder in der zur Sammlung Liebermann veröffentlichten Forschung noch im Vortrag der Parteien Hinweise. Die Vermutung eines NS-verfolgungsbedingten Entzugs wird auch nicht durch einen etwaigen Nachweis dazu widerlegt, Martha Liebermann habe einen angemessenen Kaufpreis erhalten, über den sie habe frei verfügen können, und das Rechtsgeschäft hätte auch ohne die Herrschaft des Nationalsozialismus oder unter erfolgreicher Wahrung ihrer Vermögensinteressen stattgefunden. Insbesondere letztere Widerlegungsgründe können angesichts des Verfolgungsschicksals Martha Liebermanns ausgeschlossen werden – und werden auch nicht vorgetragen.
c) Unter Berücksichtigung aller Umstände gelangt die Beratende Kommission
NS-Raubgut daher zu der Empfehlung, die Zeichnung Bauarbeiter von Adolph von Menzel an die Erben nach Max und Martha Liebermanns zu restituieren.